Ist die Seele des Pletzls noch lebendig?
„Früher war alles besser.” Das hört man heutzutage häufig, wenn man die Rue des Rosiers, das Herz des jüdischen Viertels des Marais’, des Pletzls, entlangschlendert.
In den letzten vierzig Jahren ist das Viertel stark gentrifiziert worden, eine Gentrifizierung, die in letzter Zeit eine halsbrecherische Geschwindigkeit erreicht hat. In den letzten fünf Jahren sind viele jüdische Bäckereien, Delikatessen-Geschäfte, jüdische Büchereien und koschere Schlachter, die diese mittelalterliche Straße säumten, von schicken High-End Boutiquen verdrängt worden. Dies provoziert Kommentare wie zum Beispiel: „das einzig Jüdische an der Rue des Rosiers heutzutage ist, dass die Geschäfte sonntags öffnen.“
Das ist nicht ganz falsch, denn auch im katholisch geprägten Frankreich, der Kirche schönster Tochter, sind die Geschäfte sonntags geschlossen. Die Stadt verzichtet darauf, Strafen zu verhängen, da die jüdischen Geschäfte sonnabends geschlossen sind. Aber die neuen Boutiquen profitieren gleichfalls auch von der Sonntagsöffnung.
Aber was löste diese Verwandlung aus? Die Veränderungen in einem Viertel aufzuzeichnen ist gar nicht so einfach.
Die Dinge begannen langsam im Jahre 1962 als André Malraux, Kulturminister, diese Gegend, die damals auch als die Achselhöhle Paris’ bezeichnet wurde, unter besonderen Schutz stellte. Es gab bereits Pläne, die ganze Gegend von der Seine bis hin zum Gare de l’Est einfach abzureißen. Malraux sah darin eine Tragödie und verhinderte sie. Nach und nach wurden die Stadtpaläste aus dem siebzehnten Jahrhundert in denen inzwischen die Arbeiter und Armen hausten und wo viele vorwiegend jüdische Familien Fabriken eingerichtet hatten, renoviert. Ein Schlüsselmoment war, als das Hôtel Salé, ein völlig heruntergekommenes Herrenhaus im nördlichen Marais, seine Pforten nach einer Totalerneuerung Mitte der Siebziger-Jahre als Picasso-Museum wieder öffnete.
Die schwule Gemeinde, immer mit dem richtigen Riecher für Viertel, die kurz vor der Gentrifizierung stehen, erschien nach und nach im Marais und begann Wohnungen zu renovieren. Zwei schwule Bars eröffneten am westlichen Ende der Rue des Rosiers und so wurde das jüdische Viertel langsam von einem anderen „Ghetto“ eingehüllt: der Gay community.
Aber die jüdische Gemeinde blieb noch intakt. Eine kleine Gemeinde lebt schon seit dem Mittelalter im Pletzl (jiddisch für „kleiner Platz“). Nach Jahren der Vertreibung kamen sie in großer Zahl am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zurück, als sie in Osteuropa Opfer von Pogromen und als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden. Frankreich, dass das erste Land Europas war, das Juden als vollwertige Bürger anerkannte und ihnen alle Bürgerrechte gewährte, zog natürlicherweise tausende Immigranten an. Die Massen Vertriebener kamen am Gare de l’Est an. Etwas orientierungslos bahnten sie sich ihren Weg zu den ärmlichen Gassen des Marais, wo sie sich so gut es eben ging niederließen. Sei wohnten dort zur Miete mit Toiletten auf dem Flur und es tummelten sich etwa dreißig Familien pro ehemaligem Herrenhaus. Es wurde hauptsächlich Jiddisch gesprochen. Synagogen entstanden und es folgten koschere Delis und Restaurants so wie jüdische Schulen.
In Frankreich gehen die Kinder auch sonnabendmorgens zur Schule, aber die jüdischen Schulen bleiben am Sabbat geschlossen. Ähnlich wie in anderen Diaspora-Städten wie zum Beispiel der Lower East Side in New York, erfreute sich der Tuchhandel großer Beliebtheit, da er armen und ungelernten Arbeitern eine Stellung bot. Es war seinerzeit eine wirklich sehr arme und heruntergekommene Gegend, die allerdings voller Farbe, Leben und Zusammengehörigkeitsgefühl war.
Das eigentliche Pletzl ist ein von vier Straßen begrenztes Quadrat. Die Rue des Rosiers und die Rue du Roi de Sicile die parallel in Ost-West-Richtung verlaufen. In Nord-Süd-Richtung begrenzen die Rue Pavé und die Rue Vieille du Temple das Viertel. Von der Rue des Rosiers zweigen dann noch die Rue des Ecouffes und die Rue Ferdinand Duval ab.
Die Rue Ferdinand Duval hieß vom dreizehnten bis ins zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts rue des Juifs, also Judenstraße, da dort jahrhundertelang fast ausschließlich Juden wohnten. Die Rue des Ecouffes erhielt ihren Namen von Greifvögeln (Milanen), die das Symbol der Pfandleiher, Juden ursprünglich aus der Lombardei bzw; Mailind (Milan auf Französisch), waren.
Die Rue des Rosiers wurde kürzlich auf einen Initiative der Bürgermeisterin des vierten Arrondissements, die seit 2001 im Amt ist, sehr aufwendig umgestaltet. Die Entscheidung die Straße zwischen 2005 und 2007 zu ebnen und auf dekoratives Kopfsteinpflaster zu setzen, hat viele Beschwerden der ansässigen Ladenbesitzer hervorgerufen, da diese fürchteten ihre angestammte Kundschaft zu verlieren. Heute ist es einen charmante Fußgängern vorbehaltene Straße und einige der bescheideneren Läden mussten schließen. Einige wurden mit Koffern voller Geld, die den Deal schmackhafter machen sollten, überredet. Marciano, eine exzellente Bäckerei, ist standhaft geblieben. Sie gehört vorher Ashkenaze-Juden, den Moskowitzs, die das Geschäft an Joseph Marciano unter der Auflage verkauften, dass er weiterhin osteuropäische Speisen feilböte. Und in der Tat gibt es hier einen der besten Apfelstrudel.
Andere ältere jüdische Geschäftsleute, die kurz vor der Rente standen, warfen das Handtuch. Auf der neueren Seite der Rue des Rosiers zwischen der Rue Ferdinand Duval und der Rue Pavé gibt es überhaupt keinen jüdischen Läden mehr. Dieser Teil der Straße wurde erst unter Haussmann während seiner gigantischen Umgestaltungsmaßnahmen für Paris Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, eröffnet.
Nun trug es sich aber zu, dass sogar diese chicen Boutiquen auf große Schwierigkeiten stießen und Probleme haben weiterhin zu existieren. Sie sind natürlich toll für einen Schaufensterbummel aber die Preise sind dann doch eher wie die in der eleganten Avenue Montaigne. Es sieht ein bisschen so aus, als seien in der Straße bald wieder Veränderungen, zu erwarten.
Eine Adidas-Boutique hat eine Designer-Boutique abgelöst und an der Stelle des Dampfbades befindet sich jetzt COS, das etwas bessere H&M. Wird das Viertel wie Prenzlauer Berg wo die trendigen und originellen Geschäfte, Bars us. dem Mainstream und Konsum Platz machen mussten?
Klar, es gibt noch die Falafel-Restaurant, die ganz bescheiden und vielleicht nicht ganz zu Unrecht behaupten, sie seien die besten der Welt. Da wäre zum Beispiel das l’As du Falafel und wenn man die langen Schlangen davor sieht, so scheint es, wirklich sehr gut zu sein. Aber der Falafel King ist ihm dicht auf den Fersen. Wie dem auch sei, die beiden Besitzer zeigen sich glücklich über die vielen Touristen, die natürlich viel Geld dalassen.
Die beiden Finkelstajn-Läden (die Bäckerei des Herrn Finkelstajn in der 25, rue des Rosiers sowie das Delikatessengeschäft seiner Ex-Frau Kahn-Finkelstajn in der 24, rue des Ecouffes) können sich ebenfalls nicht über schlechte Geschäfte beschweren, auch wenn die Zeiten sich seit vierzig Jahren wahrlich geändert haben, als die Anwohner noch morgens ihr Challa-Brot kauften. Heute stehen nachmittags die Touristen für gehackte Leber und Bagels an.
Der Besitzer der koscheren Pizzeria, Herr Benaim, ein hassidischer Jude, ist traurig, zu sehen, dass sich die Nachbarschaft so sehr verändert und glaubt, dass die Bürgermeisterin nicht unbedingt die besten Absichten hegt.
Es ist dort schon ein bisschen anachronistisch, wen man mit seinem 5-Euro-Falafel zu Lamarthe geht, um eine 700-Euro-Handtasche zu kaufen.
Gott sei Dank gibt es noch eine Jeschiva, einen Talmud-Schule in der Rue Pavé und die ein oder andere Synagoge in der Gegend. Ohne diese gäbe es kein richtiges jüdisches Leben mehr in diesen Straßen … nur noch Erinnerungen, wie es einst war und die Plaketten, die an Deportation und Razzien während des Zweiten Weltkrieges erinnern.
Das wohl bedauerlichste Ereignis war die Schließung Goldenbergs im Jahre 2007. Diese Mischung aus Deli und Restaurant war festes Inventar im Marais. Jo war sicherlich nicht immer die Freundlichkeit in Person aber sein Restaurant war ein Synomyn jüdischer Erfahrungen. Minister und Präsidenten speisten dort. Ironischerweise wurden bei einem Attentat im Jahre 1981 nur Gois, also Nichtjuden, getötet. Das Fenster mit den gelb-umrundeten Einschusslöchern und die Erinnerungsplakette für die Opfer spiegeln die „Vergiss’ niemals“-Philosophie wider. Eigenartigerweise wurde die Plakette bei Schließung des Restaurants entfernt. Es heißt Hygiene-Probleme hätten das Ende herbeigeführt und Jo war auch schon gezwungen worden, die Scheibe mit den Einschusslöchern auszutauschen. Man munkelt, dass er den Laden an einen Cousin verkauft hätte, drei Wochen bevor er schließen musste, was Jo nicht ganz unbekannt sein soll. Auch die Costes-Brüder sollen ein Auge darauf geworfen haben, aber diverse Standards entsprachen nicht mehr den heutigen Normen und es gab Probleme mit den Bewohnern des Hauses. Das Schicksal dieses Restaurant wie so vieler anderer Geschäfte in dem Viertel ist in der Schwebe.
Ob man will oder nicht, Veränderungen haben die Rue des Rosiers erfasst und niemand weiß wo das hinführen wird. Lasst uns bloß hoffen, dass das jüdische Herz und die jüdische Seele nicht ganz aus dem Viertel vertrieben werden.